Hallo Mariam, lass uns mit deiner Vorstellung anfangen. Was sind 5 Gegenstände, ohne die du nicht reisen kannst?
Hallo Rea! Das ist ein guter Einstieg, denn ich muss diese Entscheidung ziemlich oft treffen. Abgesehen von den Gegenständen, von denen jede*r so ausgeht (Handy, Laptop, usw.), nehme ich immer mit: 1) Ein schwarzes Oberteil. 2) Meine schwarzen Wanderschuhe, die mir immer das Gefühl geben, ich bin fest verwurzelt, egal wo ich mich befinde. 2) Mein aktuellstes Notizbuch, um alle möglichen Erkenntnisse auf meiner Reise festzuhalten. 3) Mein Wacom-Tablet, um Fotos über Photoshop besser bearbeiten zu können. 4) Eine Kamera, die zu meinem kreativen Projektvorhaben auf der Reise passt (eins gibt es immer!). 5) Das Büchlein „Selbstbetrachtungen” von Marc Aurel, das mich schon seit mehreren Jahren begleitet.
Danke fürs Teilen, über das Buch würde ich gern mehr erfahren. Aber nochmal zu dir: Inwiefern spielt deine eigene Geschichte, deine Persönlichkeit, wer du bist - in deine Motivation bei IN-VISIBLE zu arbeiten?
Das spielt für mich die größte Rolle. Ich bin in Kairo aufgewachsen und habe dort meine Kindheit und Jugendzeit erlebt. Das war auf der einen Seite eine sehr schöne Zeit mit sehr wertvollen Lebenserfahrungen, aber auch eine Zeit, die für mich mit viel Schmerz verbunden ist. Ich wurde in meinen Wünschen, mich geistig, körperlich und künstlerisch frei auszudrücken, sehr stark eingeschränkt, weil ich in eine patriarchal geprägte Gesellschaft geboren wurde, in der meine Rechte als Frau noch viel stärker eingeschnitten werden als in Deutschland. Dies hat meine Persönlichkeit stark geprägt - ich begann durch den Sexismus, dem ich täglich ausgesetzt war, mich für Gleichberechtigung mit besonderem Fokus auf Gender und sexuelle Orientierung zu interessieren. Ich fing an, mich im Alltag über strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierung sehr zu ärgern und sie dort zu thematisieren, wo ich das tun konnte. Das hat aber nicht immer die besten Reaktionen hervorgerufen. Irgendwann merkte ich, dass ich richtig wütend wurde und mich dem nicht mehr aussetzen wollte. Ich sehnte mich nach Freiheit und zog nach Berlin, sobald ich die Chance bekam. Da konnte ich erstmal auf vielen Ebenen tief aufatmen. Ich merkte aber, dass auch hier mich meine Vergangenheit sehr stark prägt und ich diese Freiheit nicht einfach so hinnehmen kann, sondern auch nachhaltig dazu beitragen möchte, dass sie allen Menschen, die strukturell benachteiligt und diskriminiert werden, zugänglich wird. Meine Entscheidung, Gender Studies zu studieren, war ein Schritt in diese Richtung - und meine Entscheidung und Motivation, bei IN-VISIBLE zu arbeiten, die Bestätigung, dass sich der Weg bis hierher gelohnt hat und sich mein Wunsch langsam erfüllt. Ich bin dafür sehr dankbar und in dem Aspekt auch für meine Lebensgeschichte, die mich hierher geführt hat.
Du erwähnst künstlerische Freiheit und du bist ja seit mehreren Jahren selber kreativ als Fotografin und Filmemacherin unterwegs. Prägt dein Wunsch nach (Gender)-Gerechtigkeit auch deine künstlerischen Kreationen?
Ja, für mich ist das Einfordern meiner künstlerischen Freiheit eine von mehreren Wegen, mich für Gendergerechtigkeit einzusetzen. Mich künstlerisch auszudrücken ist für mich ein Weg, meine Erfahrungen und Perspektiven festzuhalten, die auf meine Existenz als ägyptische Frau basieren. Wenn ich diese Erfahrung künstlerisch ausdrücke, fühlt das sich für mich wie ein kleiner Beitrag an, andere Frauen* in Ägypten zu empowern. Ich habe z.B. versucht, meine Identitätssuche und Verzweiflung während meiner Jugendzeit fotografisch festzuhalten. Dafür stand mir nicht die Freiheit zur Verfügung, die ich jetzt hätte, aber das Festhalten der „Journey” war für mich ein befreiendes Erlebnis, durch das ich auch andere Frauen in Ägypten inspirieren wollte.
Du bist seit Oktober bei IN-VISIBLE; das ist deine erste Festanstellung. Wie ist es für dich, in deinem ersten Vollzeitjob zu sein?
Es fühlt sich lustigerweise überhaupt nicht so an, wie ich mir einen Vollzeitjob vorgestellt habe. Nämlich, dass ich nach den ersten zwei Wochen schon überlege, wie ich am schnellsten wieder abhauen kann, weil ich mich im neuen Job wie eingesperrt fühle. So ist es bei IN-VISIBLE nicht. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass ich langfristig Teil eines Teams sein möchte, in dem ich mich gut aufgehoben fühle. Natürlich kommt mit einer Festanstellung auch eine neue Art von Workload auf mich zu, an die ich mich erstmal gewöhnen musste und immer noch muss. Das ist für mich eine spannende Erfahrung, aus der ich vieles mitnehme. Ich muss an erster Stelle lernen, wie ich meine Zeit gut managen kann, aber auch wie notwendig es ist, meine eigene Energie gut hauszuhalten. Jede Woche wird es etwas leichter und ich kann endlich anfangen wahrzunehmen: Krass, ich bin wirklich fester Teil dieses tollen Teams und kann dazu beitragen, die Welt etwas gerechter zu gestalten - wie cool!
Du bist bei uns im Team zuständig für die Koordination aller Projekte. Das heißt auch: du hast den Überblick darüber, was bei IN-VISIBLE gerade inhaltlich abgeht. Woran arbeiten wir denn gerade so?
Hmmm, wo soll ich nur anfangen? Ok, ich liste mal ein paar Sachen, die ich am spannendsten finde. Bis Ende des Jahres (es ist gerade Ende November) führen wir noch über 10 Workshops und Inputs durch, schließen ein Beratungsprojekt ab, erstellen ein cooles Glossar mit super spannenden Quellen zu allen möglichen Themen, die mit Gendergerechtigkeit zu tun haben, wir bereiten Ausschreibungen für interessante Forschungsarbeiten vor, wir arbeiten an einem Buchprojekt, machen Onboardings für neue Freelancer*innen im Team und überarbeiten dazu unsere Website… Das ist nur eine Best-Of Auswahl.
Klingt nach ganz schön viel. Gibt es einen Moment, der dir in deinen ersten sechs Wochen bei uns in besonders positiver Erinnerung geblieben ist, ein Highlight? Ja, mir fällt da eine Übung ein, die wir während unseres „IN-VISIBLE feiert” Team-Events zu dritt (ich, Rea, Luka) gemacht haben. Es ging darum, sich fünf Minuten Zeit zu nehmen, um zu überlegen, was wir gegenseitig aneinander feiern und das dann in der Gruppe zu teilen. Es war natürlich auf einer Ebene ganz lustig, sich fünf Minuten lang mit Komplimenten beglücken zu lassen, ohne jede 10 Sekunden sich dafür zu bedanken. Es war aber auch total berührend. Mir wurde in dem Moment nochmal klar, wie gut ich mich bei IN-VISIBLE aufgehoben fühle und dass jede*r im Team wirklich „gesehen” ist. Zumindest habe ich mich so gefühlt - das hatte ich in der Form bisher in keinem anderen Arbeitskontext so erlebt.
Hast du bestimmte Wünsche, die du bei IN-VISIBLE erfüllen möchtest?
Ich wünsche mir im Bereich der Projektkoordination noch mehr zu wachsen (der Wunsch wird mir schon in den ersten zwei Monaten erfüllt - juhu!), ich wünsche mir aber auch, methodisch und inhaltlich so viel wie möglich zum Thema Gendergerechtigkeit mitzunehmen, sodass ich das Wissen selber fundierter und strukturierter vermitteln kann. Ein kleiner Wunsch wäre, die Inhalte auch irgendwann auf Arabisch zugänglich zu machen und die sprachliche Barriere damit zu beseitigen.
Danke für das Interview und für deine Arbeit mit uns, Mariam.
Mariam (sie/ihr) ist seit dem 01.10.2022 bei IN-VISIBLE; das Interview hat Rea geführt.