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TECHNOLOGIEN UND IDEEN VON NORMALEN MENSCHEN.

Wie inklusiv ist unsere Tech-Gesellschaft?

Dies mag überraschen, aber auch Technologien, die mit unverkennbar guten Intentionen entwickelt wurden, sind einen kritischen Blick wert. Warum? Aus dem einfachen Grund, dass jede Technologie, die wir entwickeln, zelebrieren und in die wir investieren, immer etwas über uns selbst und die Gesellschaft, in der wir leben verrät. Nicht immer wollen wir das so genau wissen. Denn: “technology is designed in ways that reflect taken-for-granted ideas about what constitutes normal".(1)


Normal, ein unschönes Wort. Was ist schon normal? Wer ist schon normal? In unserer Gesellschaft ist dieses Wort geprägt von einem weißen, männlichen Menschen, der keinerlei Beeinträchtigung hat. Im Umkehrschluss fallen damit alle anderen zumindest ein Stück weit außerhalb dieser Norm. Das zeigt sich nicht nur in unseren Schulen, Unternehmen, Institutionen, sondern auch in unseren Technologien.

Technologien sollten den Status Quo hinterfragen, tun es aber nicht


Werden Technologien speziell für Menschen mit Behinderung entwickelt, haben ihre Designer:innen vor allem den Anspruch der Barrierefreiheit – nicht nur der Technologie an sich, sondern auch der Umwelt, in der sich die behinderte Person mit Hilfe dieser Technologie bewegen soll. Das ist nobel und sinnvoll. Aber wird nicht immer mit dem richtigen Ansatz verfolgt. Der bekannte deutsche Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen etwa benutzt für Technologien, welche sich “unter riesigem Aufwand mit einem Detail des an Barrieren nicht armen Alltags zu arrangieren versuch[en]” den Ausdruck “systemstabilisierend”(2). Die eigentliche Barriere, zum Beispiel eine fehlende Rampe, bleibt in diesem Fall bestehen, die Technologie arbeitet nur geschickt um diesem Missstand herum.

Aber sollten wir in Zukunft überhaupt noch Rampen bauen, wenn Treppen mit Hilfe von Technologie überwunden werden können? Wenn alle Menschen, für die sie eine Barriere darstellen, auch mit einem elektrischen Rollstuhl ausgestattet werden können, der Treppen erklimmt?


Diese Logik verkennt die zahlreichen Vorteile von Rampen. Sie können eben nicht nur von Rollstuhlfahrer:innen genutzt werden, sondern helfen auch Eltern, die einen Kinderwagen schieben und Personen, die ihr Fahrrad oder ihren schweren Koffer nicht einfach eine Treppe hochtragen wollen oder können, sich sicher und mühelos durch den öffentlichen Raum zu bewegen. Mit einer Rampe, einem Aufzug, taktilen und akustischen Orientierungssystemen, ausreichend Sitzgelegenheiten, Ruheräumen oder barrierefreien Sanitäranlagen im öffentlichen Raum für Zugang zu sorgen liegt zum Glück nicht im Verantwortungsbereich einer einzelner Person. Es ist Aufgabe eines Unternehmens, einer Stadt oder Gemeinde - eine kollektive Aufgabe. Und es kommt uns allen zu Gute. Wenn wir uns einfach “gleich die Barriere vornehmen”. (2)

Eine inklusive Gesellschaft zu bauen, bedarf der Verantwortung aller

Werfen wir einen Blick auf eine weitere Technologie: Handschuhe, die gehörlose Menschen beim Gebärden tragen sollen, um die Gebärdensprache von einem Computer in gesprochene Sprache übersetzen zu lassen. Diese Handschuhe sind mit Sensoren ausgestattet, welche die Handbewegungen der gebärdenden Person wahrnehmen. Leider sorgt diese Technologie unter Menschen, welche eine Gebärdensprache beherrschen, immer wieder für Kritik, nicht zuletzt, weil es dabei um mehr geht als Handbewegungen (3).

Aber auch aus diesen Handschuhen können wir etwas lernen. Eine behinderte Wissenschaftlerin, die unter dem Namen crippledscholar auf ihrem gleichnamigen Blog schreibt, weist darauf hin, dass Videos, die diese und ähnliche kostspielige High-Tech-Geräte in Benutzung zeigen, unter Menschen ohne Behinderung oft für Begeisterung sorgen. Das sieht sie kritisch:

“Viral excitement over adaptive technology seems to be directly connected to whether or not it challenges the social aspect of an inaccessible society. People are all for increased access so long as they don’t have to do anything about it." (4)

Und tatsächlich liegt der Mehraufwand für die Anschaffung und reibungslose Benutzung dieser Technologien immer bei der Person, die auf sie angewiesen ist, um Zugang zu erhalten. Nun kann man sich auch fragen: Warum werden nicht mehr Technologien entwickelt, die Menschen beim Erlernen einer Gebärdensprache helfen oder sie mit einer gebärdenden Person als Lernpartner:in verbinden? Warum schafft man nicht in Schulen, Volkshochschulen, Universitäten und Unternehmen mehr Möglichkeiten zum Erlernen einer Gebärdensprache und bringt Menschen mit und ohne Behinderung dadurch in den Austausch? Oder stellt sicher, dass Gebärdensprachdolmetscher:innen anwesend sind, um den Austausch zu erleichtern? Für viele Menschen wäre das sicher weniger umständlich als über Handschuhe miteinander zu kommunizieren.

Wer muss sich hier wem anpassen?

Und warum liegt der Fokus eigentlich immer so offensichtlich auf dem Individuum, der behinderten Person? So sollen etwa Bewegungen und Kommunikation technologiegestützt verändert werden, um sich an eine von Menschen ohne Behinderung gestaltete Umwelt anzupassen. Um zu dieser Zutritt zu erhalten, wird erwartet, dass Treppen mühelos überwunden werden und in einer gesprochenen Sprache kommuniziert wird. Are you serious?


“By accepting systemic inaccessibility, people with disabilities are manipulated into reaffirming [...] ‘normality’ [...] and, by extension, their own perceived difference.” (5)

Indem Technologie als teures, glänzendes Heftpflaster für nicht barrierefreie Orte da ansetzt, die behinderte Person an diesen Ort anzupassen und nicht den Ort an die Person (und die vielen anderen Personen, für die er voller Barrieren ist), findet eine Verschiebung des Problems statt. Was an diesem Ort als ‘normal’ gilt, wird nicht als exkludierend problematisiert, sondern bestätigt. Fast 10 % aller Menschen in Deutschland sind schwerbehindert.(6)


Noch mehr haben, ob temporär durch eine Verletzung oder Krankheit oder für immer, Anforderungen an die Barrierefreiheit, welche über das hinausgehen, was von vielen nicht-behinderten Menschen als ‘normal’ empfunden wird. Es sind so viele, dass man wirklich dringend über eine Begriffserweiterung nachdenken sollte.

Und nun die vielleicht wichtigste Frage:Warum werden Menschen mit Behinderung nicht viel öfter als Expert:innen konsultiert und für ihre Expertise angemessen bezahlt? Sie wissen selbst am besten, welche Technologien sie brauchen - und welche nicht. Ganz nach dem Selbstverständnis vieler behinderter Aktivist:innen: “Nothing about us without us”.



 

Lisa Baumann ist Studentin des Studiengangs IT-Systems Engineering am Hasso-Plattner-Institut. Neben ihrem Studium denkt sie viel darüber nach, wie Technologien Menschen privilegieren, ausschließen oder sogar gefährden. Perspektiven, die ihr im Diskurs oft zu kurz kommen, sind die von Menschen mit Behinderung(en).

Ein Hinweis: In diesem Text habe ich sowohl die sogenannte identity-first language (“eine behinderte Aktivistin”) als auch person-first language (“eine Aktivistin mit Behinderung”) verwendet, da die bevorzugte Form von Person zu Person unterschiedlich und unter Menschen mit Behinderung umstritten ist.

[1] Foley, Alan / Ferris, Beth: Technology for people, not disabilities: Ensuring access and inclusion (2012), Journal of Research in Special Educational Needs, Seite 192.

[2] Krauthausen, Raúl: Denn sie wissen nicht, was sie tun (04.12.2020), https://raul.de/allgemein/denn-sie-wissen-nicht-was-sie-tun/

[3] vgl. Erard, Michael: Why Sign-Language Gloves Don’t Help Deaf People (09.11.2017),https://www.theatlantic.com/technology/archive/2017/11/why-sign-language-gloves-d ont-help-deaf-people/545441/

[4] crippledscholar: When Celebrating Accessible Technology is Just Reinforcing Ableism (04.07.2015),https://crippledscholar.com/2015/07/04/when-celebrating-accessible-technology-is-j ust-reinforcing-ableism/

[5] Ellis, Katie / Kent, Mike: Disability and New Media (2011), Routledge Studies in New Media and Cyberculture, Seite 15.

[6] vgl. Behinderte Menschen - Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-M enschen/_inhalt.html

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